Das unsichtbare Kopftuch

Leyla trägt ein unsichtbares Kopftuch. So fühlt sie sich. ( © Clarissa Schwarz)

Leyla* zieht das T-Shirt unter der Matratze hervor, streift es glatt und legt es über einen Stuhl in ihrem Schlafzimmer. Das T-Shirt gehört ihrem Freund. Hastig hatte sie es versteckt, als ihre Familie sie besuchen kam. Es darf keine Hinweise geben, keine Spuren. Ihr Freund Michael* ist Deutscher, sie ist Türkin.

“Eines Tages wird alles gut”, sagt sie und schenkt schwarzen Chai-Tee ein. Sie wolle bald mit ihren Eltern reden, ihnen alles erzählen. Und ihre Eltern werden sie deshalb nicht verstoßen und weiterhin lieben. Trotz allem. Das wünscht sie sich von ganzem Herzen. Heute Abend wird sie Michael wiedersehen. Er wird bei ihr schlafen. Es ist ihre erste richtige Beziehung. Leyla ist 25.

In ihrer Hamburger Wohnung hängen viele Fotos von ihren Eltern, ihrem Bruder, von Verwandten in der Türkei. Sie wirkt mir ihren großen dunkelbraunen Augen sehr kindlich, und wenn sie aufblickt, wirbeln ihre langen schwarzen Locken um ihr Gesicht.

Ihr Handy klingelt. Es ist ihr Freund Michael. Er verspätet sich, da er noch in die Bibliothek muss. Michael studiert an der gleichen Uni wie Leyla und wohnt offiziell noch bei seinen Eltern. Trotzdem schläft er fast jede Nacht bei Leyla, meistens kommt er gleich nach der Uni in die 35 Quadratmeter große Wohnung. Dass es keine Fotos von dem Paar in ihrer Wohnung gibt, störe ihn nicht, sagt sie. Sie haben einen ganz normalen Alltag. Jeden Morgen steht sie auf, kocht frischen Kaffee, macht Brötchen warm. Nach dem gemeinsamen Frühstück gehen sie zur Uni. Dort haben sie auch kennengelernt.

Sie erinnert sich noch genau an diesen Tag. Michael hatte sie nach einem Seminar angesprochen und sie zu einem Mittagessen in der Mensa eingeladen.  Anfangs hatte sie Zweifel, ob  das, was sie tat, richtig war, da ihre Eltern sich einen türkischen Schwiegersohn wünschten und nicht einen „Deutschen“. Sie stellte Michael die Bedingung, dass er die Beziehung geheim hielt.

„Wenn meine Familie von Michael erfährt, wird alles eskalieren. Die gesamte Familie wird wahrscheinlich darauf bestehen, dass ich mich von ihm trenne. Oder sie werden von ihm verlangen, dass er mich auf der Stelle heiratet. Mein Vater wird eine offene Beziehung nicht dulden, denn er ist in dieser Hinsicht sehr altmodisch. Außerdem möchte ich, dass er mich aus Liebe heiratet, nicht aus dem Druck heraus.“ Sie nimmt nervös einen Schluck von ihrem Tee und stellt die Tasse schnell wieder auf den Tisch.

Leyla macht jeden Tag das durch, was tausende ausländische  Frauen auch erlebensie muss sich hinter einer Lüge verstecken. „Ich rufe meine Eltern mindestens dreimal täglich an, denn das erwarten sie von mir. Ich erzähle ihnen, wie ich meinen Tag verbringe. Doch meistens lüge ich sie an. Sie denken, dass ich zur Uni gehe, mit meinen Freundinnen in der Mensa esse, nach Hause komme und für die Uni lerne. Das tue ich ja eigentlich auch- nur, dass es eben noch Michael in meinem Leben gibt. Dass ich abends nicht allein bin, dass wissen sie nicht. Das verschweige ich ihnen.“ Michael muss bei jedem Telefonat, das sie mit ihren Eltern führt, aus dem Zimmer gehen. Sie hat Angst, dass ihre Eltern sonst an dem Klang ihrer Stimme hören, dass sie nicht alleine ist. Auch wenn ihre Eltern sie besuchen, muss alles den Anschein erwecken, dass nur sie hier wohnt. Sie räumt alles weg, was an Michael erinnert, sie spült seine Kaffeetasse und seinen Teller ab und stellt sie in den Küchenschrank, und achtet darauf, dass es im Kühlschrank keine Erdbeerjoghurts gibt, denn die hat sie noch nie gegessen.

In den Augen ihrer Eltern ist sie noch Jungfrau. Dass sie keine mehr ist, dürfen sie nie erfahren. Denn ihre türkische Herkunft schreibt ihr vor, als Jungfrau in die Ehe zu gehen. „Ich habe Angst, dass mich meine Eltern verstoßen, wenn sie es erfahren. Das ist so üblich bei uns.“ Erst vor kurzem wurde eine Freundin von ihr deswegen von ihrer Familie verstoßen. Laut einer Umfrage im Jahr 2008 stimmten etwa 44 Prozent der türkischen Eltern in Deutschland dem zu, dass sie Probleme hätten, wenn ihr Kind einen Deutschen oder eine Deutsche heiraten würde. Trotzdem gab es im Jahr 2010 in Deutschland über 168.000 deutsch-türkische Eheschließungen. Die Anzahl der deutsch-türkischen Paare, die nicht verheiratet sind, liegt viel höher.

Einmal hat sie versucht, es ihrer Mutter anzuvertrauen. „Ich habe nur erzählt, dass ich einen netten jungen Mann kennengelernt habe, einen Deutschen. Meine Mutter hat dann eine ganze Weile nicht mit mir gesprochen. Danach habe ich nie wieder etwas gesagt“, sagt sie und guckt verschämt auf den Boden. Nur ihr Bruder weiß davon, mit ihm hatte sie schon immer ein gutes Verhältnis. Sie sagt, er stehe hinter ihr. Dann erzählt sie weiter.

Das, was für sie verboten ist, sei bei ihrem älteren Bruder „normal“. Bei ihm ist die Familie nicht so streng. Er hatte schon ein paar deutsche Freundinnen. Eine davon durfte er sogar mit in den Familienurlaub in der Türkei nehmen und den türkischen Verwandten vorstellen. „Mein Bruder darf das, weil er ein Mann ist. Bei den Töchtern sind die Türken sehr streng, sie möchten zeigen, dass sie ihre Ehre beschützen“, erzählt sie.

So wurde sie auch erzogen. Streng. Sie durfte nie in die Disko mit ihren gleichaltrigen deutschen Freundinnen. „Meine Eltern hätten nein gesagt, deshalb habe ich gar nicht erst gefragt, ob ich mit darf. Falls ich gefragt hätte, hätten sie sowieso gedacht, dass ich wegen eines Jungens dorthin will“. Nichtsdestotrotz wurden ihr auch einige Dinge erlaubt-eines davon war, dass sie musste nie ein Kopftuch tragen. Ihre Eltern haben ihr nie ein Kopftuch aufgesetzt, sie nie ein Kopftuch tragen musste, auch  nicht in der Öffentlichkeit. Die zweite Sache, die sie durfte war das Studium in Hamburg. Und das, obwohl sie von zuhause ausziehen musste, da ihr Elternhaus eine Stunde von Hamburg entfernt liegt. Dieses Vertrauen, in eine eigene Wohnung einziehen zu dürfen, habe sie sich durch ihre guten Schulnoten erkämpft, sagt sie. Ihre Eltern waren zwar misstrauisch, doch Leyla versicherte ihnen, dass sie selbst auf sich aufpassen könne und dass sie sich keine Sorgen machen müssen. So gaben sie schließlich nach. Sie erlaubten es jedoch auch in der Erwartung, dass sie vernünftig sei und immer das „Richtige“ tue, also das, was den Vorstellungen ihrer Eltern entspricht. Und dort passt ein „Deutscher“ einfach nicht hinein.

Leyla ist zerrissen. Auf der einen Seite möchte sie ihre Familie glücklich machen und die brave türkische Frau sein, wie sie es von ihr verlangen, auf der andere Seite liebt sie Michael und möchte mit ihm zusammen sein. Das Paar muss Tag für Tag viele Proben bestehen. Es gibt keine gemeinsamen Urlaube, keine Umarmungen in der Öffentlichkeit. “Wir können nicht mal gemeinsam ins Kino – da könnte uns ein Bekannter sehen und es meinen Eltern verraten. Es ist fast so, als trage ich ein unsichtbares Kopftuch. Denn ich habe nicht die Freiheit, die ich möchte“, fährt sie fort. Sie wirkt angespannt.

Am meisten tue ihr Michael leid, sagt sie. Er würde gern ihre Familie kennenlernen. Vor kurzem hat er sie seinen Eltern vorgestellt. Sie haben sie sehr herzlich aufgenommen, sagt sie lächelnd. “Ich glaube, dass sie mich mögen. Michaels Mutter hat mir ein Paar Ohrringe geschenkt. Dieses Gefühl, von Michaels Eltern akzeptiert zu werden, ist unbeschreiblich schön“, sagt sie.

Die Schuldgefühle häufen sich tagtäglich. „Ich habe es satt, meine Eltern anzulügen. Ich wünschte, ich könnte es Ihnen sagen und sie könnten sich mit mir freuen. Ich habe zwar noch keinen anderen Mann kennengelernt, doch ich bin mir sicher, dass Michael der beste Mann für mich ist. Er macht mich glücklich.“ Vor 3 Jahren nach Hamburg gekommen zu sein,  sei das Beste gewesen, was ihr passieren konnte.

Der Gedanke, irgendwann mit ihren Eltern wieder unter einem Dach zu wohnen möchte sie gar nicht vorstellen. Auf die Frage, ob sie nicht in gewisser Weise immer noch von ihren Eltern kontrolliert werde, schüttelt sie zuerst den Kopf und sagt nach einer Weile: “Schon, aber ich kann ihnen nicht widersprechen. Das Bild, das mein Vater von mir hat, ist mir sehr wichtig. Ich möchte nicht, dass er glaubt, ich hätte seine Ehre verletzt indem ich eine andere Lebensweise habe, als die, die er sich für mich vorstellt.. Er vertraut mir und ich möchte ihn nicht enttäuschen.“ Dann schweigt sie eine ganze Weile, bevor sie nochmal Tee einschenkt.

In einem Jahr macht sie ihren Abschluss in Biologie. Danach möchte sie Michael fragen, ob er bereit ist, sie zu heiraten. Sie hat keine Ahnung, ob ihr Vater dazu seinen Segen geben wird. Bis dahin wird sie ihr Geheimnis bewahren und sich weiterhin so fühlen, als trage sie ein unsichtbares Kopftuch.

 

*Namen geändert


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